Die Unausweichlichkeit des Wertens: Warum das Problem nicht die Wertung, sondern das (Ver-)Urteilen ist

In unserer modernen Welt hören wir oft den Rat, nicht zu werten. „Bewerte nicht“, „Sei wertfrei“, „Urteile nicht über andere“ – diese Sätze sind in spirituellen, philosophischen und psychologischen Diskussionen allgegenwärtig. Doch was bedeutet es wirklich, nicht zu werten? Und ist es überhaupt möglich, diesen Rat zu befolgen?

Die Wahrheit ist: Wir werten ständig. Das Werten ist ein unvermeidlicher Bestandteil unseres Denkens, ein Mechanismus, der tief in unserer menschlichen Natur verankert ist. Ohne Wertungen könnten wir nicht effektiv durchs Leben navigieren. Das eigentliche Problem liegt nicht in der Wertung selbst, sondern in der Art und Weise, wie wir unsere Wertungen nutzen – insbesondere im Verurteilen. Wenn wir urteilen, vor allem ohne Empathie, entstehen Trennung, Missverständnisse und Konflikte.

Werten als menschliche Grundfunktion

Wertung ist keine bewusste Entscheidung, sondern ein automatischer Prozess. Unser Gehirn ist darauf programmiert, Informationen zu verarbeiten, zu kategorisieren und zu bewerten. Schon beim Aufwachen beginnt dieser Prozess: „Ist das Wetter angenehm?“, „Schmeckt der Kaffee gut?“, „Ist mein Partner heute gut gelaunt?“ Wir bewerten, ob etwas sicher oder gefährlich, angenehm oder unangenehm, wichtig oder unwichtig ist.

Diese Fähigkeit hat evolutionäre Wurzeln. Früher mussten unsere Vorfahren blitzschnell entscheiden, ob ein Geräusch im Gebüsch eine Gefahr (z. B. ein Raubtier) oder harmlos (z. B. der Wind) war. Ohne diese Fähigkeit wären wir als Spezies nicht überlebensfähig gewesen. Wertung ist also kein Luxus, sondern ein Überlebenswerkzeug.

Auch in der heutigen Zeit ist das Werten unverzichtbar. Im Alltag treffen wir unzählige Entscheidungen, die auf Wertungen beruhen: Welche Kleidung ziehe ich an? Welchen Job wähle ich? Wem schenke ich mein Vertrauen? Diese Entscheidungen könnten wir nicht treffen, wenn wir nicht werten würden.

Das Missverständnis um das „Nicht-Werten“

Wenn Menschen sagen, man solle nicht werten, ist das oft gut gemeint. Es geht darum, Vorurteile abzulegen, offen zu sein und andere so zu akzeptieren, wie sie sind. Doch in der Praxis wird diese Forderung häufig missverstanden. Viele interpretieren „nicht werten“ als Aufforderung, jegliche Meinung oder Haltung aufzugeben. Das ist nicht nur unrealistisch, sondern auch kontraproduktiv.

Es ist unmöglich, nicht zu werten. Selbst die Entscheidung, „nicht zu werten“, ist eine Wertung. Indem wir etwas als „falsch“ oder „unnötig“ klassifizieren, haben wir bereits eine Bewertung vorgenommen. Das Problem entsteht, wenn wir Wertungen mit (Ver-)Urteilen verwechseln.

 

Der Unterschied zwischen Werten und Verurteilen

Werten ist ein neutraler Prozess. Es bedeutet, etwas zu erkennen und ihm eine Bedeutung oder einen Platz in unserem inneren System zu geben. Verurteilen hingegen ist das Hinzufügen einer moralischen Ebene – oft ohne Verständnis für den Kontext oder die Perspektive des Gegenübers.

Ein Beispiel: Du siehst jemanden, der teure Markenkleidung trägt. Dein Verstand nimmt diese Information auf und bewertet sie: „Das ist teure Kleidung.“ Das ist eine neutrale Wertung. Verurteilen würdest du jedoch, wenn du weitergehst und sagst: „Dieser Mensch ist oberflächlich und materialistisch.“

Das Verurteilen geht über die reine Beobachtung hinaus. Es zieht Schlüsse, die oft auf Vorurteilen, persönlichen Erfahrungen oder einem begrenzten Verständnis basieren. Das Problem am Verurteilen ist, dass es Trennung schafft: Es stellt eine moralische Hierarchie auf, in der du dich selbst über den anderen erhebst.

Empathie als Gegenmittel zum Verurteilen

Verurteilen ohne Empathie ist gefährlich. Es entmenschlicht den anderen und reduziert ihn auf eine Eigenschaft oder Handlung. Doch jeder Mensch ist komplex, geprägt von seinen Erfahrungen, Überzeugungen und Herausforderungen. Empathie bedeutet, sich in den anderen hineinzuversetzen, seine Beweggründe zu verstehen und seine Menschlichkeit anzuerkennen.

Wenn wir mit Empathie werten, verwandelt sich die Wertung in ein Werkzeug für Verbindung statt für Trennung. Statt zu sagen: „Dieser Mensch ist oberflächlich“, könnten wir uns fragen: „Warum trägt diese Person teure Kleidung? Was bedeutet das für sie?“ Vielleicht ist die Kleidung ein Ausdruck von Stolz auf eigene Leistungen oder ein Schutzschild gegen Unsicherheiten.

Empathie fordert uns heraus, unsere eigenen Vorurteile zu hinterfragen und die Welt mit den Augen des anderen zu sehen. Das bedeutet nicht, dass wir jede Handlung gutheißen müssen. Es bedeutet lediglich, dass wir urteilen, ohne zu verurteilen.

Die Balance zwischen Werten und Akzeptieren

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Balance zwischen Werten und Akzeptieren. Viele Menschen befürchten, dass Empathie oder Akzeptanz dazu führen könnten, dass sie ihre eigenen Wertungen und Überzeugungen aufgeben müssen. Doch das ist ein Trugschluss.

Akzeptieren bedeutet nicht, alles gutzuheißen. Es bedeutet lediglich, die Realität so anzuerkennen, wie sie ist, ohne sie sofort ändern oder beurteilen zu wollen. Du kannst die Handlungen eines Menschen nicht mögen und trotzdem seine Perspektive respektieren. Du kannst dich entscheiden, Abstand zu jemandem zu halten, ohne ihn moralisch abzuwerten.

Diese Balance erlaubt es uns, unsere Integrität zu bewahren, ohne andere zu entmenschlichen.

Gesellschaftliche Dimensionen des Verurteilens

Das Problem des Verurteilens ist nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich relevant. Unsere Kultur fördert oft schnelle Urteile. Social Media, Nachrichten und Werbung liefern uns täglich vereinfachte Darstellungen von Menschen, Ereignissen und Ideen. Wir werden ermutigt, schnell Position zu beziehen, oft ohne tieferes Verständnis.

Diese Dynamik führt zu einer Polarisierung der Gesellschaft. Menschen werden in „gut“ und „böse“, „richtig“ und „falsch“ eingeteilt, basierend auf oberflächlichen Merkmalen oder Meinungen. Empathie und Nuancen gehen dabei verloren. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, müssen wir als Gesellschaft lernen, mehr Fragen zu stellen und weniger schnell zu verurteilen. Statt sofort zu sagen: „Diese Person liegt falsch“, könnten wir fragen: „Was hat sie zu dieser Meinung geführt?“

Werten ist unvermeidlich, Verurteilen ist optional

Das Werten ist ein natürlicher und notwendiger Teil des Menschseins. Es hilft uns, die Welt zu verstehen, Entscheidungen zu treffen und unsere Identität zu formen. Das Problem entsteht erst, wenn Wertungen in Verurteilungen übergehen – insbesondere, wenn diese ohne Empathie geschehen.

Die Lösung liegt nicht darin, das Werten zu unterdrücken, sondern darin, bewusster mit unseren Wertungen umzugehen. Statt uns auf das Verurteilen zu konzentrieren, sollten wir nach Verständnis streben. Empathie ist der Schlüssel, um aus Wertungen Werkzeuge der Verbindung statt der Trennung zu machen.

Letztlich geht es darum, Menschlichkeit über Urteile zu stellen. Wir können Menschen und Situationen bewerten, ohne sie zu verurteilen. Wir können Meinungen haben, ohne anderen ihre Würde abzusprechen. Und wir können lernen, dass unser größtes Potenzial nicht in der Verurteilung, sondern im Mitgefühl liegt.

 

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